22. März 2023, 20:20 Uhr

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22. März 2023, 20:20 Uhr

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»Aber wenn sie denken, dass sie am nächsten Tag vielleicht nicht mehr leben, kann man sie doch auch verstehen, oder nicht? Das ist dann Carpe Diem ohne Teekränzchen.«

»Schluss jetzt. Ich platze vor Neugier und du verführst mich ständig mit einem anderen Thema. Wie geht es dir mit Max?«

Ziemlich überraschend tauchte vor uns ein See auf. Das heißt, ich war überrascht, weil er da auf einmal war, aber Mom war richtig erstaunt, weil es laut Karte keinen See auf unserem Weg geben sollte. In ihr Erstaunen hinein begann ich zu summen: Non, rien de rien, non, je ne regrette rien … Wir lachten laut.

Am Ufer des Sees lagen breite Baumstämme, die offenbar als Sitzgelegenheit gedacht waren. Wir nahmen das Angebot an und setzten uns auf einen der Stämme. Mom kramte die Karte aus ihrer Tasche, gab mir eine kleine Wasserflasche und faltete die Karte neu, um unseren vermuteten Ort besser finden zu können. Dann fuhr sie mit dem Finger eine Weile darüber.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie plötzlich. »Wir haben einen falschen Abzweig genommen. Das muss der Breitsee sein, hier.« Sie deutete auf einen Punkt, für den ich mich nicht sonderlich interessierte. Ich stöhnte auf. Von den angekündigten zwei Stunden hatten wir den größeren Teil hinter uns, und die versprochene Lokalität hatte schon begonnen, Gestalt vor meinem geistigen Auge anzunehmen.

»Was hat das zu bedeuten?«, wollte ich wissen.

»Ist nicht so tragisch, hat uns wahrscheinlich zehn Minuten gekostet, mehr nicht. Bestimmt haben wir eine Markierung übersehen, als wir uns unterhalten haben. Andererseits finde ich es gar nicht so schlimm. Der See sieht schön aus, oder nicht?«

»Stimmt«, sagte ich. Der See lag zwischen den Bäumen wie eine große, glitzernde Pfütze. Dazu war ständig ein leises Platschen zu hören. So als ob jemand Steine vom Rand ins Wasser warf. Aber da war niemand. Das Platschen kam von den Fischen im See. Ständig sprang einer kurz raus und war auch gleich wieder im dunklen Grün des Wassers verschwunden. Für einen Moment gab es nur Wind in den Bäumen und platschende Fische. Breitsee konnte ich mir merken, weil der Name so absurd war. Ohne Dickicht am Ufer hätte auch der Lahme unter den Gehenden den See in nicht mehr als zehn Minuten umrundet.

Mom und ich genossen die Stimmung für ein paar Minuten, ohne dass jemand etwas sagte. Aber ich wusste ja, dass sie gerne etwas hören wollte. Alles eben zu seiner Zeit, dachte ich kurz und befand die Zeit dann für gut. Am Breitsee habe ich ihr erzählt, was in der restlichen Woche passiert war. Sie musste kaum etwas nachfragen. Ich beschrieb ihr jeden Tag, gefühlt minutiös. Blickte dabei auf den See und bewegte meinen Kopf in Richtung der kleinen Kreise, die die Fische nach dem Eintauchen für wenige Sekunden auf der Oberfläche des Wassers hinterließen. Meinen Hunger vergaß ich.

Als ich fertig war, schaute ich zu Mom rüber, und sie schaute mich strahlend an. »Was du erzählst, klingt gut, Großer. Du bist tatsächlich verliebt, und es tut sich was zwischen euch beiden. Ich drücke dir die Daumen, dass das so weitergeht. Es ist schön, wenn man so tief empfinden kann, schön und kostbar.« Ich nickte. Wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob das so uneingeschränkt zutraf.

Wir standen auf und gingen den Weg bis zu der Stelle, an der wir uns verlaufen hatten, zurück. Dort tauchte dann auch wieder unser Bach auf. Wir hatten es gar nicht bemerkt, dass er uns abhandengekommen war. Die nächste Dreiviertelstunde liefen wir angenehm schweigend nebeneinander her.

(Fortsetzung folgt)



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