21. März 2023, 16:04 Uhr

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21. März 2023, 16:04 Uhr

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»Hobeln, Mom?«

»Yes, Sir!«

»Denkst du nicht auch manchmal, dass das nicht ganz normal ist?«

»Was genau meinst du?«

»Na ja, wir gehen hier durch den Wald und unterhalten uns über meine Unterhosen und darüber, dass ich in die Pflanzen wichsen könnte, wenn es mir Spaß macht. Ich vermute, dass wenige Jungs ähnliche Dialoge mit ihrer Mutter führen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht. Es ist wohl nicht die Regel. Du siehst, man muss nicht schwul sein, um ein wenig … ungewöhnlich zu sein.«

»Du bist echt ›ne coole Mom. Eine total klasse Mom. Scheiße auch, ich bin ein Glückspilz.«

»Jetzt übertreibs mal nicht. Wenn ich nicht bald ein paar Antworten auf die Fragen bekomme, die mich brennend interessieren, werde ich wahrscheinlich ungehalten und dann könntest du deine Worte bereuen.«

»Piaf hat gesagt, dass sie absolut gar nichts bereut.«

»Piaf? Heißt du Piaf? Das sind so französische Texte, mit denen sich die ganze Welt identifiziert. Nicht weil sie wahr sind, sondern weil sich alle wünschen, es wäre so. Aber früher oder später bereuen wir alle, glaube mir. Da kann sie mir noch lange vorträllern, dass sie sich nichts aus der Vergangenheit macht. Das ist auch nicht besser als dieser ganze Carpe Diem-Mist.«

Von Carpe Diem hatte ich schon gehört, weil das auf den Kombucha-Flaschen draufsteht. Pflücke den Tag soll das wörtlich übersetzt bedeuten. Das fand ich eigentlich ganz hübsch bis zu diesem Moment. »Warum ist das denn Mist?«, wollte ich wissen.

»Im Grunde ist es nicht falsch, wenn wir uns darauf besinnen, jeden Tag sehr bewusst zu erleben, ihn zu genießen. Und trotzdem klingt das nach Teekränzchen unter gehobenen Mittelstandsfrauen, die alle die Brigitte lesen. Ein Porsche ist eigentlich auch ein schönes Auto, aber es sitzen immer die falschen Leute drin. Das tut dem Wagen nicht gut.«

Ich hakte nicht weiter nach. Mom las die Brigitte, traf sich gerne mit Freundinnen zum Tee, und eine davon, nämlich Anne, fuhr einen dicken Porsche. Egal, es beschäftigte mich aber, ob Mom etwas bereut.

»Wenn wir früher oder später alle bereuen, Mom, warst du dann schon dran gewesen oder kommt das noch bei dir?« Im selben Moment, in dem ich die Frage aussprach, beschimpfte mich eine laute, innere Stimme als halbhirnigen Idioten, der seinesgleichen sucht. Mom hielt an. Und ging dann weiter. Ich wusste, wo sie war, und da durfte ich sie nicht stören. Sie war für kurze Zeit sehr weit weg bei George, da gab es kein Vertun. Und kam dann ohne eine direkte Antwort zurück.

»Wieso erzählst du mir etwas von der Piaf? Sie ist nicht ganz deine Generation.« Die Frage klang müde und erleichterte mich.

»Was ja kein Grund ist, sie nicht zu hören. Obwohl ich sie mir wirklich erst angehört habe, nachdem ich in der Zeitung einen interessanten Artikel über sie las. Ich habe mir gemerkt, dass sie nichts bereut hat. Und dass die französische Fremdenlegion im Algerien-Krieg das Lied zu einer Art Truppen-Hymne machte. Das klang bemerkenswert. So viel bekommen manche Jungs, die noch grün hinter den Ohren sind, trotzdem mit. Wenn die anderen in der Klasse von Rihanna schwärmen, streu ich eben Edith Piaf ein. Die kennt zwar keiner, aber das festigt meinen Ruf, ein wenig speziell zu sein, und auf den lege ich Wert.«

»Ach so, mein Sohn legt Wert darauf, speziell zu sein. Nun ja, da bist du auf einem guten Weg, denke ich. Aber da kannst du mal sehen, wie bescheuert der Text ist. Wenn Soldaten im Krieg singen, dass sie nichts bereuen, ist definitiv was schiefgelaufen.«

(Fortsetzung folgt)



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