10. März 2023, 15:08 Uhr

Roman_Nichtmillionenstadt_ANZG_KA_UA_0903_234528835

10. März 2023, 15:08 Uhr

20

Ansonsten hätte ich wissen sollen, was ich mit ihm reden konnte, aber ich hatte nicht den blassesten Schimmer. Ich hatte versucht, mir etwas einfallen zu lassen. Stunden hatte ich darüber nachgedacht. Hatte ich überhaupt geschlafen? Ich sah bestimmt gruselig aus. Aber mir war nichts eingefallen. So begann der Unterricht. Max blieb hinten und ich vorne sitzen. Weit entfernt saßen wir nebeneinander. Aber das half. Es war nämlich so, dass sich mein Puls etwas normalisierte, und mit der Zeit konnte ich sogar am Unterricht teilnehmen. Bis zum Ende der dritten Stunde hatte ich mich bestimmt fünfmal gemeldet, was für manche natürlich ein absoluter Minuswert gewesen wäre, für mich aber war das ordentlich. Dreimal kam ich dran, und es waren keine Sicherheitsnummern. Mitunter stellen Lehrer ja Fragen, da schämt man sich fast, sich zu melden, und dann meldet man sich deswegen nicht, obwohl die chronischen Nichtmelder genau damit wahrscheinlich geweckt werden sollen. Zu denen zähle ich aber gar nicht. Zu den Einfach-mal-drauf-los-Brabblern allerdings auch nicht. Ich antworte in der Regel, wenn es sich lohnt, und ich mir sicher bin. Dazu gesellt sich die Tagesstimmung, und die wurde im Lauf des Dienstags besser.

Herrn Stanjek bot ich die richtige Anwendung einer Formel an, Frau Wolters konnte ich einen komplizierten Satz in seine Bestandteile zerlegen, und Herrn Wirtz beantwortete ich in Bio die Frage, was es mit der Doppelhelix auf sich hatte. Danach fühlte ich mich richtig gut. Max hatte noch keinen Ton von sich gegeben und sich, soweit ich das aus den Augenwinkeln beobachten konnte, auch nicht gemeldet. Ich rechnete mir Chancen aus, dass es ihn beeindrucken könnte, mit mir nicht den vordersten Schwachmaten als Nachbar zu haben. Sofern dies zutraf, hatte ich ein erstes Etappenziel erreicht. Ich meldete mich nur für Max und sammelte Selbstvertrauen. So viel, dass mir das Wagnis, mich einmal zu ihm umzudrehen, nicht mehr zu groß erschien. Ich lehnte mich etwas zurück, spielte mit meinem Kugelschreiber in der Hand und bewegte den Kopf langsam in seine Richtung. Nur aus diesem Grund wäre es besser gewesen, er hätte anderswo gesessen. So konnte ich ihn schlecht beobachten. Als sein Nachbar konnte ich ihn nicht anschauen, ohne dass er es bemerkte. Ich drehte den Kopf trotzdem weiter und landete direkt auf seinen Augen. Er hatte sich nicht bewegt, mich folglich also schon länger angesehen. Er hielt den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Während meine Augen auf Hüpfbällen durch meinen glühenden Kopf dotzten und so etwas wie ›Kmmpff‹ stöhnten. So schnell war ich wieder im schrecklichen Niemandsland des Vortages gelandet. Bis Max einfach den Mund aufmachte, zur Tafel hin nickte, und, wie ich fand, ziemlich nett und fast gutmütig sagte: »Gib acht, dass du vorne nichts verpasst, Marius.« Ich nickte auch, und drehte mich wieder um. Der Rest des Tages war gelaufen, die Lähmung war zurück. Mit einem Unterschied. Meinem Namen aus seinem Mund.

Der Main floss weiter in seinem Trott, und die Sonne tauchte ihn flussabwärts in ein funkelndes Sternenmeer.

Am Mittwoch klingelte der Wecker immer und immer wieder. Bis Mom ins Zimmer kam, die Vorhänge aufzog und mit deutlicher Stimme sagte, dass es nun Zeit sei und ich mich beeilen müsse. Das war effektiver als jeder Wecker. Ich wusste dann, dass es kein Vertun mehr gab, kein Umdrehen, keine Bettdecken-Nachspielzeit, selbst die Zeitung fiel dann aus. Ich musste aufstehen, wankte wie ein Zombie ins Bad, und als Zombie mit geputzten Zähnen und zu viel Deo zurück an den Kleiderschrank. (Fortsetzung folgt)



0
Kommentare | Kommentieren

Mehr zum Thema

Bilder und Videos