Ortsbeiräte tagen gewöhnlich, ohne große öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen. Das war vermutlich auch ein Grund dafür, dass Stefan Jagsch, der stellvertretende Landesvorsitzende der als verfassungsfeindlich eingestuften NPD, hier von Vertretern von CDU, SPD und FDP einstimmig zum Ortsvorsteher gewählt wurde. Man war sich der Bedeutung offenbar nicht bewusst. Im Nachhinein gestanden mehrere Mitglieder, einen »großen Fehler« gemacht zu haben. Andere, etwa Vorgänger Klaus Dietrich (für die FDP gewählt), betonten aber auch, dass Jagsch sich nichts habe zuschulden kommen lassen; seine politische Einstellung sei nie ein Thema im Gremium gewesen - und er kenne sich mit Computern aus und könne Mails verschicken.
Als Ortsvorsteher dürfte Jagsch bald keine E-Mail mehr schreiben: Heute Abend soll er abgewählt werden - nach Anträgen zur Einführung einer wöchentlicher Bürgersprechstunde, der Terminierung der nächsten Müllsammelaktion und der Organisation eines Dorffestes. Geschehen soll dies im Gemeinschaftshaus des kleinen Ortes, wo die erwartete große Zahl von Zuschauern Platz findet. Zugleich soll die CDU-Politikerin Tatjana Cyrulnikov, Vorsitzende der Jungen Union Wetterau, zur neuen Ortsvorsteherin bestimmt werden. Der politische Schaden soll dadurch begrenzt werden und Altenstadt wieder zur Tagesordnung übergehen.
Doch es wird wohl etwas hängen bleiben. Die Waldsiedlung wird häufiger als bisher mit dem Vorwurf konfrontiert werden, zu Hessens braunen Flecken zu gehören. Auch wenn Bürgermeister Norbert Syguda (SPD) unlängst in der WZ betonte: »Altenstadt unterscheidet sich nicht von anderen Kommunen.« Zehn Prozent NPD-Wähler seien zu viele, sagte er mit Blick auf das Ergebnis der Kommunalwahl 2016. »Aber die wollten keine Nazi-Partei wählen, sondern ihren Protest ausdrücken.« Und die AfD sei vor drei Jahren eben nicht angetreten.
Dennoch: Mittelhessen gilt als ein Zentrum der rechten Szene im Bundesland. Hier kommt es immer wieder zu Demos, Treffen oder Flugblattaktionen von Neonazis. Und hier kann die NPD Erfolge verbuchen: Seit der Kommunalwahl sitzen NPD-Vertreter unter anderem in den Vertretungen von Altenstadt, Büdingen, Wetzlar und Leun. Experten erklären das vergleichsweise gute Abschneiden auch damit, dass einige ihrer Protagonisten in der Region zu Hause sind, sich für ihre Orte engagieren - und dann nicht mehr als NPD-Politiker wahrgenommen werden. Landesweit spielt die Partei dagegen keine Rolle. Bei der Landtagswahl 2018 erreichte sie 0,2 Prozent der Stimmen. Insgesamt geht das Landesamt für Verfassungsschutz von 1475 Rechtsextremisten in Hessen aus, wie aus dem Bericht 2018 hervorgeht. Davon gelten 680 als gewaltorientiert. Die Zahlen seien zwar gegenüber dem Vorjahr weitgehend konstant, schreiben die Verfassungsschützer. Doch sie sehen gerade in der Neonazi-Szene, die durch meist regional lose strukturierte Gruppierungen geprägt ist, eine hohe Gewaltbereitschaft.
Jagsch will klagen
Entsprechend waren die Reaktionen auf die Wahl des NPD-Funktionärs. Nach dem Votum im September reichte die Empörung von »Schande« bis »Blackout der Demokratie«. Angesichts des öffentlichen Drucks ruderten die Ortsbeiratsmitglieder zurück und stellten einen Abwahl-Antrag. Jagsch selbst hat seine geplante Absetzung kritisiert und bereits eine Klage dagegen angekündigt. Unbekannte beschmierten vergangene Woche nach Polizeiangaben sein Garagentor mit einem Mordaufruf. Der Staatsschutz ermittelt.
Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin und Demokratieforscherin Susanne Pickel ist die Abwahl legitim. »Wenn ich die NPD demokratisch, durch eine freie, faire, geheime und unmittelbare Wahl in ein Gremium wähle, wird die NPD dadurch nicht zu einer demokratischen Partei.« Die Professorin verweist darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Partei als im Grunde verfassungsfeindlich eingestuft hat. Das hätte auch in Waldsiedlung bekannt sein müssen.
Die Wahl von Jagsch sei nach den formalen Kriterien zwar korrekt. Man könne einen Amtsinhaber aber abwählen, etwa wenn er an Rückhalt und Mehrheit verliere oder ein Fehlverhalten vorliege. Pickel: »Korrekturen sind vorgesehen in der Demokratie.« Zudem gebe es das Prinzip der Legitimität. »Legitimität heißt Anerkennungswürdigkeit.« Und da sieht die Forscherin ein Problem: Die Legitimität sei zweifelhaft, wenn ein gewählter Amtsträger aus einer Partei komme, von der bekannt sei, »dass sie dem demokratischen Gedanken zumindest abgeneigt ist«.