17. März 2023, 22:02 Uhr

Zeitreise beim AWO-Bürgertreff

Kriegsjahre in Rainrod aus Kindersicht

Eine Zeitreise unternahmen die Gäste des Rainroder AWO-Bürgertreffs. Kindheitserinnerungen einer Essener Seniorin führten zurück in die letzten Kriegsjahre im kleinen Vogelsbergort.
17. März 2023, 22:02 Uhr
Horst Lind, Veronika Wingefeld und Klaus Wingefeld (v. l.) lassen beim AWO-Bürgertreff gemeinsam die Erinnerungen an Rainrod der Jahre 1944 und 1945 lebendig werden. FOTO: MARESCH

Rainrod (em). »Wie sich die Frau mit 91 Jahren noch erinnern kann!« Staunen und Faszination waren beim Bürgertreff der AWO Rainrod deutlich wahrnehmbar. Horst Lind, langjähriger Ortsvorsteher, erhielt von Ellen Wagner, einer Essener Seniorin, Erinnerungen an das Dorfleben in Rainrod der Jahre 1944/45. Den Text bereitete Hans-Dieter Herget als Präsentation auf, die Klaus Wingefeld mit Ortsbildern von damals ergänzte.

Die 30 Besucher ließen sich gern auf eine Zeitreise mitnehmen. Als Zehnjährige kam Ellen Wagner mit Mutter und Bruder 1944 nach Rainrod. Der Aufenthalt in der Heimatstadt Essen war durch schwere Bombardements lebensgefährlich geworden. »Erst wohnten wir kurze Zeit bei Kromms Mariechen in der Schulstraße. Es war dort herzlich und gemütlich nach all den angstvollen Monaten«, schrieb Wagner. Kuh- und Hühnerstall, Gemüsegarten - das Stadtkind kam in eine fremde Welt mit neuen Herausforderungen: »Mariechen bat mich, beim Schlachten eines Huhns zu helfen. Sie hielt es an Körper, Flügeln und Beinen fest und ich hackte den Kopf ab. So war unsere nächste Mahlzeit gesichert.«

Genaue Beobachterin

Die kleine Ellen muss ein patentes Kind gewesen sein. Hühnerschlachten war nicht die einzige neue Aufgabe, auch Blutrühren, Därme putzen und mit Wurstmasse füllen war angesagt, ebenso Gänse hüten. Denn in den nächsten Monaten konnten Mutter und Tochter günstig bei Familie Knöß neben der alten Schule wohnen. Von beiden erwartete man aber Mithilfe bei der Alltagsarbeit. »Knöße« betrieben eine Metzgerei, eine Gaststätte und einen kleinen Gemischtwarenladen. Die Seniorin beschrieb das Anwesen. An das Wohnhaus mit Gaststube schloss sich das blitzsauber gehaltene Schlachthaus an. Dort stand ein großer Kupferkessel, ein wahres Allzweckgerät. Nicht nur Würste kochte man darin. Er diente als Waschkessel, Wanne zum Waschen von Steckrüben und Bohnen vor dem Einwecken und Kochtopf für herbstlichen Birnen- und Zwetschen-»Hoink«. Neben dem Schlachthaus war unter einem Dach der große Brennholzstapel aufgesetzt, daneben zwei Plumpsklos mit Herzchen an der Tür, an einem Haken hing innen kleingeschnittenes Zeitungspapier. Die Eiseskälte beim winterlichen Toilettengang hat Ellen Wagner nach Jahrzehnten noch nicht vergessen.

Ihren Erinnerungen ist der Kontrast anzumerken, den sie als Kind verarbeiten musste: aus einer zerstörten Stadt mit häufigem nächtlichen Alarm und knapper Lebensmittelversorgung in das ruhige Dorf, wo es genug zu essen gab. Allerdings bedeutete das für alle Arbeit vom frühen Morgen bis abends. Auch Ellen und ihr Bruder mussten beim Misten, Melken, im Garten und auf dem Acker helfen. Ausführlich beschrieb sie das Schlachten. Sauber ausgenommen hingen die Schweinehälften da und brauchten vor der Weiterverarbeitung erst den Freigabe-Stempel des Fleischbeschauers. »Das wird mein Opa Otto Wingefeld gewesen sein«, rief Klaus Wingefeld spontan. Dass Ellen Wagner Familien wie Kromm, Dechert, Reichmann und Wedel nennt, die heute noch in Rainrod ansässig sind, machte einen besonderen Reiz für die Zuhörer aus. Sie entdeckten Verwandte der Groß- und Urgroßeltern-Generation.

Rainrod - ein Idyll? Mit Tieffliegerangriffen rückte der Krieg auch hier näher, man sah Bomberflotten in Richtung Rhein-Main fliegen. Jugendliche mussten zum Kriegsdienst. Darunter war auch Ellens 15-jähriger Bruder, den man am Westwall einsetzte, der sich in den Wirren der letzten Kriegstage aber wieder nach Rainrod durchschlug.

Der Krieg rückt näher

Die Front rückte näher, amerikanische Panzer hielten am Ortseingang, bereit zum Beschuss. Der Bürgermeister kam mit zwei US-Offizieren in die Gaststube der Wirtschaft Knöß und suchte dringend jemanden, der englisch sprach. Ellen Wagner: »So kam es, dass Mutti übersetzte und eindringlich um Verschonung des Dorfs und der Menschen bat. Der Offizier war verblüfft, eine so gut englisch sprechende Frau anzutreffen und so kam es, dass Rainrod sich kampflos ergab und verschont wurde.«

Wie hart die erste Nachkriegszeit war, wird am Schluss des Berichts deutlich. Die Familie kehrte nach Essen zurück. Ein halbes Jahr fiel die Schule komplett aus und die Ernährungslage war desolat. Im Bericht ist von angegammeltem Gemüse, glitschigem Brot und rätselhafter rosa Paste als Mameladenersatz die Rede. Mit 14 Jahren wog Ellen Wagner gerade mal 30 Kilo. »Gut, dass ich von Rainrod her so durchgefüttert war«, schrieb sie.



0
Kommentare | Kommentieren

Bilder und Videos