24. April 2022, 19:09 Uhr

Auf Spuren des Urgroßvaters

24. April 2022, 19:09 Uhr
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Aus der Redaktion
Heimatforscher Helmut Meß vom Heimatverein, Elad Plaut, Geschichtskenner Albert Naumann und Uwe Wittich (v. li.) als Dolmetscher an den Stolpersteinen in der Marburger Straße. Nach dem Empfang durch Bürgermeister Andreas Fey suchte Plaut OPrte in Kirtorf auf, die an die ermortdeten Urgroßeltern erinnern. FOTO: BF

Auf den Spuren seiner jüdischen Vorfahren in Kirtorf: Mit Ausbruch der Coronakrise gewann vor zwei Jahren in Israel Elad Plaut viel Zeit zur Recherche seiner familiären Herkunft und Wurzeln. Nach einer Kontaktaufnahme mit den Kirtorfer Heimatforschern Helmut Meß vom ›Heimatverein Stadt Kirtorf« sowie Albert Naumann, der mit akribischen Mühen die Geschichte jüdischer Familien in Kirtorf in Zeiten des Nationalsozialismus aufgearbeitet hat, flossen Informationen in Text- und Bildformaten im regen Mailverkehr. Vor wenigen Tagen reiste Plaut aus seinem neuen Heimatland Amerika nach Kirtorf an, um bi einem Rundgang durch die Stadt die Stätten seiner Vorfahren kennenzulernen.

»Hallo, ich heiße Elad Plaut und wohne in Israel. Mein Urgroßvater Sigmund Plaut lebte in Kirtorf und wurde 1942 deportiert und ermordet. Mein Großvater Martin Plaut war 1937 nach USA geflohen. Wenn ich darf, werde ich jetzt auf Englisch weitermachen«, so machte Elad Plaut Anfang 2020 als Angehöriger der dritten Generation nach dem Holocaust in einer Mail an die Stadt Kirtorf auf sein Anliegen zur Nachforschung seiner Abstammungsgeschichte aufmerksam. Die Nachricht wurde umgehend weitergeleitet an die Spezialisten Meß und Naumann und der Aaustausch zwischen ihnen und Praut nahm seinen Lauf.

Anhand eines ganzen Sammelsuriums an Scripten, Briefen, Überlieferungen, Berichten von Zeitzeugen, Bildern und Zeitungsausschnitten konnte der Nachkomme vieles über das damalige Leben seiner Vorfahren in der Stadt Kirtorf erfahren. Auch, dass sie keineswegs vergessen sind - ganz im Gegenteil: Zum Gedenken an sie als Opfer der Gräueltaten in Zeiten des NS wurden vor ihrem einstigen Haus in der Neustädter Straße 8 drei Stolpersteine verlegt - einen für den deportierten Urgroßvater Sigmund, ein zweiter für den Großvater Martin und der dritte für dessen Schwester Gertrud Plaut. Des Weiteren wurde ihm zuteil, dass die Urgroßmutter, also Sigmunds Prauts Frau Rachel, die letzte Verstorbene war, die Anfang der 1940er Jahre auf dem jüdischen Friedhof Kirtorfs begraben wurde, jedoch ohne Grabstein.

Nach dem Austausch per Mail zur Tragik seiner Familie folgte nun für Plaut der praktische Teil zum besseren Verständnis der Überlieferungen. Mit weiteren Fragen im Gepäck bestieg der junge Mann in Amerika den Flieger nach Deutschland und stieß bei seinem Besuch der Stadt Kirtorf auf weit geöffnete Türen.

Stopp an Haus des Urgroßvaters

»Es ist sicherlich nicht einfach und leicht, an einen Ort zu gehen, an dem auch Leid, Schmerz und kritische Stimmen ihren Anteil der Geschichte tragen«, eröffnete Bürgermeister Andreas Fey im Rathaus den Empfang von Elad Plaut mit viel Empathie. Im Kreise der Lokalhistoriker Meß und Naumann (mit Gattin Stephanie) sowie Uwe Wittich als Dolmetschers stellten Anwesende viele Dokumente und Informationen vor, um auf einen gemeinsamen Wissensstand zu kommen für den Rundgang. Plaut wollte das einstige Haus seines Urgroßvaters sehen und den jüdischen Friedhof besuchen - diese Bitten gingen in Erfüllung.

Nur wenige Meter vom Rathaus entfernt legte die Gruppe im Anschluss in der Neustädter Straße an drei Stolpersteinen den ersten Stopp ein und Naumann erklärte warum. »Hier entstammten also mein Großvater und meine Urgroßeltern«, wurde dem Zeitreisenden Wahlamerikaner durch die Erläuterungen seiner kundigen Begleiter sicht- und spürbar bewusst. Noch dazu lieferten auf der Oberseite der Steine die kleinen Metallplatten mit dem Namen der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft den lesbaren Beweis: Hier wohnte Sigmund Plaut, Jahrgang 1880, Deportiert 1942, ermordet im besetzten Polen. Hier wohnte Martin Plaut, Jahrgang 1916, Flucht 1937. Hier wohnte Gertrud Plaut, Jahrgang 1919, Flucht 1939 England.

So sollen die Inschriften an das Leid erinnern, welches den Menschen jüdischen Glaubens im Holocaust zugefügt wurde - verbunden mit der Botschaft für die Gegenwart und Zukunft, dass jene Vorkommnisse aus der Vergangenheit jederzeit wieder durch radikale Gruppen stattfinden könnten. Um sich in Kirtorf klar gegen solche Formierungen zu positionieren, sei vor etlichen Jahren schon in der Stadt das »Aktionsbündnis für Vielfalt« gegründet worden, machte der Rathauschef deutlich.

Die weitere Station des historischen Rundgangs sollte die einstige Synagoge am Alsfelder Tor sein, von der es jedoch nur noch bildliche Darstellungen und seit Anfang der 1980er Jahre ein unscheinbarer Gedenkstein gibt, klärte Naumann in Nähe eines kurzum anvisierten Hofanwesens auf. Die Synagoge wurde 1901 als Fachwerkbau errichtet und 50 Jahre später wieder abgerissen worden. Man habe damals die Möbel und das Inventar herausgeholt und auf dem Marktplatz verbrannt, aber nicht das Gebäude abgefackelt wie andernorts geschehen, konnte der Kundige aus seinen Gesprächen mit einstigen Zeitzeugen entnehmen.

Nach einer Zwischenstation (siehe Kasten) ging es zum jüdischen Friedhof, der oberhalb der Bundesstraße in Richtung Lehrbach angelegt wurde. Noch einmal erfolgte ein reger Gedankenaustausch über das Wissen um die Menschen jüdischen Glaubens, die dort ihre letzte Ruhestätten bekamen. Die Grabsteine sind vornehmlich aus Sandstein, die Inschriften in hebräischer oder lateinischer Sprache. Ein letzter Hinweis zur Anlage der Gräber nach den Beerdigungszeiten sollte von Meß und Naumann folgen und dann wurde es still und die Kirtorfer zogen sich zurück, um Elad Plaut am Grabe seiner Urgroßmutter Zeit zu geben zum Andenken und Gebet.



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