24. September 2019, 10:00 Uhr

Nach mehr als 80 Jahren

Wenn der letzte Laden im Dorf schließt: Aus für Edeka-Markt in Rüddershausen

Nach über 80 Jahren schließt am kommenden Wochenende der Edeka-Markt Sohl in Rüddingshausen. Inhaber Jürgen Sohl sieht sich zu diesem Schritt gezwungen - auch weil sich das Einkaufsverhalten gewandelt hat. Gerade für ältere Bewohner ist die Geschäftsaufgabe ein herber Einschnitt.
24. September 2019, 10:00 Uhr
Jonas_Wissner
Von Jonas Wissner
Noch klaffen nur wenige Lücken in den Regalen, doch bald wird der Laden leer sein: Das Ehepaar Gudrun und Jürgen Sohl in seinem Edeka-Markt in Rüddingshausen, der am Samstag letztmalig öffnet. (Foto: jwr)

Mittwochnachmittag, kurz nach 15 Uhr in Rüddingshausen: Im Edeka-Markt Sohl kehrt allmählich Leben ein. Einige Kunden schlendern gemächlich durch die Gänge des 220 Quadratmeter großen Raums. Sie wissen genau, wo was steht. Noch finden die Rüddingshäuser hier so ziemlich alles, was man im Haushaltsalltag braucht - »und ein bisschen mehr«, wie Gudrun Sohl lächelnd ergänzt. Eine ältere Dame schiebt ihren Einkaufswagen durch den Markt. Sie spricht den Chef auf Platt an: »Wie soll das denn werden?« Besorgnis steht ihr ins Gesicht geschrieben. Jürgen Sohl kennt seine Kunden; weiß, wie sie heißen, was sie kaufen - und was die Schließung des Ladens für sie bedeutet.

Wenn der Edeka-Markt Sohl am kommenden Samstag nach über 80 Jahren dichtmacht, verliert Rüddingshausen ein weiteres Stück Infrastruktur. Viele Rüddingshäuser arbeiten außerhalb, können Einkäufe auch auf der Pendlerstrecke erledigen. Doch gerade für ältere, nicht mobile Kunden entsteht eine Lücke. Schnell mal was beim »Minchen« holen, wie der Laden in Erinnerung an Sohls Großmutter Wilhelmine noch immer genannt wird, - das ist bald nicht mehr möglich.

Für manche Senioren fällt damit nicht nur eine gut erreichbare Einkaufsmöglichkeit weg, sondern weit mehr. »Für ältere Kunden ist das hier auch ein soziales Netzwerk«, sagt Gudrun Sohl. »Das ist das Schlimmste«, fügt ihr Mann hinzu, »manche Ältere gehen auch drei-, viermal am Tag hier einkaufen. Sie wollen einfach reden.« Wer wird sich künftig mit ihnen unterhalten?

Dass dieser Tag einmal kommen könnte, damit haben die Sohls schon lange gerechnet - und mit aller Kraft versucht, ihn möglichst weit hinauszuschieben: Im Jahr 2000 haben sie den Laden übernommen. Und in den zehn Jahren danach seien die Umsätze sogar gestiegen. Gegen den Trend, wie die beiden stolz erzählen.

Um ihr traditionsreiches Geschäft zu erhalten, haben die Sohls vieles versucht: Sie haben einen Getränkeservice angeboten, eine große Auswahl an Blumen ins Sortiment genommen, Weihnachtsausstellungen und Cocktailabende organisiert. Für eine Weile richteten sie im Nebenraum, der einst die Keimzelle des Ladens war, eine neue Sparte ein, boten dort Geschenkartikel, Kurzwaren und mehr an. »Ab 2008 brach das Geschäft mit Geschenkartikeln von Jahr zu Jahr mehr ein«, blickt Jürgen Sohl zurück. Gegen das Angebot der großen Online-Versandhändler seien sie auf Dauer nicht angekommen. Auch in Sachen Öffnungszeiten gingen sie mit der Zeit: »Die Dorfläden hatten früher Montag- oder Mittwochnachmittag geschlossen. Und Samstagnachmittag wurden die Bürgersteige hochgeklappt«, sagt Jürgen Sohl. 2002 fielen diese Einschränkungen auch in Rüddingshausen weg, außerdem hatte der Laden nun abends bis 19 Uhr geöffnet. Doch gemessen an den Umsätzen sei der Personalaufwand zu hoch gewesen. Seit letztem Jahr gelten wieder die alten Schlusszeiten.

Es gebe nicht den einen, entscheidenden Grund für die Schließung, ist sich das Paar einig. Auch die geänderten Konsumgewohnheiten der Kunden haben zum Ende des Standorts beigetragen. Manche seien überzeugt, dass kleine Läden wie dieser grundsätzlich teurer seien als große Supermärkte, doch das treffe zumindest bei Grundnahrungsmitteln nicht zu. »Man hat immer mehr gesehen, dass die Kundschaft nur auf die Hand eingekauft hat«, sagt Gudrun Sohl. »Für einen Nahversorger waren wir von der Fläche her zu groß - und zu klein für einen zeitgemäßen Supermarkt.« Ihr Mann bringt es auf den Punkt: »Die Ansprüche sind in unserer Wohlstandsgesellschaft immer weiter gestiegen. Bei der Vielfalt, auch an Bio- und veganen Produkten, konnten wir nicht mehr mithalten. Und wenn ich zum Beispiel elf Sorten Mineralwasser anbiete, sucht der Kunde die zwölfte.«

Sogar nach Möglichkeiten öffentlicher Förderung habe er sich umgehört. Das Ergebnis war ernüchternd: »Wir hätten investieren müssen. Nur zum Erhalt vorhandener Infrastruktur gibt es keine Programme, soweit ich weiß.«

Die Reaktionen der Kunden auf die Schließung seien unterschiedlich, berichtet Gudrun Sohl: »Wütend, fassungslos, traurig.« Einige wirkten fast lethargisch, als wollten sie es nicht wahrhaben. Als gehe es immer weiter. Doch es geht nicht weiter - zumindest nicht in der Weitershainer Straße in Rüddingshausen. Im vergangenen Jahr hat Jürgen Sohl einen Edeka in Mücke-Merlau übernommen, der gut laufe. Was an Ware nach dem Tag X übrig bleibt, können sie teils dort ins Sortiment übernehmen. Für die beiden Mittfünfziger gibt es eine berufliche Zukunft, und auch für ihre fünf Mitarbeiter. »Die nehmen wir mit«, sagt Gudrun Sohl. »Sie haben über Jahrzehnte zu uns gestanden, jetzt stehen wir zu ihnen.«

Die Sohls wohnen direkt über dem Laden. Vor der Ruhe, die im Erdgeschoss bald einkehren wird, haben sie schon ein wenig Bammel. »Alles, was danach kommt - da gucken wir mal«, sagt Gudrun Sohl. Auch wenn es »beim Minchen« bald nichts mehr zu kaufen gibt: Die treuen Kunden liegen den Sohls weiter am Herzen. Der besorgten Seniorin mit dem Einkaufswagen, die nicht weiß, wie es weitergehen soll, hat Jürgen Sohl noch ein Angebot gemacht: »Du kannst uns einen Zettel in den Briefkasten werfen und dann bringen wir dir was aus Merlau mit.«



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