Wiesbaden/Weimar - Freiheit bedeutet für einen Fluss auch etwas Arbeit. Die Lahn hat südlich von Marburg auf rund 1,5 Kilometern mehr Raum bekommen und darf sich dort nun entfalten. Sie soll sich Verästelungen suchen, mitgeführten Sand zu Bänken aufschichten, an Inselchen knabbern und das Erdreich andernorts wieder ablagern. »Wir haben einige Stellen im Fluss mit Kies verfüllt, um zu erreichen, dass die Lahn sich ihren eigenen Weg sucht«, sagt Marlene Höfner vom Regierungspräsidium (RP) Gießen zu dem Renaturierungsprojekt. Davon sollen auch zahlreiche Tierarten profitieren.
Fische und Vögel
Der alte Arm der Lahn zwängte das Gewässer in der Nähe von Weimar in ein enges künstliches Korsett. Ein »Flussschlauch« mit befestigten Ufern sei sie gewesen, so Höfner. Mehr Kanal als Mäander und damit kein guter Lebensraum für Fische, Vögel und Amphibien. Dank einer lang zurückliegenden Idee, etwas weiser Voraussicht, Teamarbeit und EU-Geld für die Renaturierung ist das nun anders.
»Gisselberger Spannweite« nennt sich das Areal, wo sich die Lahn ausbreiten kann. Dafür arbeiteten das Regierungspräsidium Gießen und die Stadt Marburg zusammen. Gefördert wurde die Maßnahme vom Land Hessen und - als Teil des Projektes »Living Lahn« - von der EU. Ab dem Sommer 2019 rollten die Bagger, trugen mehr als 117 000 Tonnen Erdreich ab und schichteten tonnenweise Kies um. Im April 2020 wurden die Arbeiten beendet.
Das Vorhaben ist auch Teil des integrierten Klimaschutzplans in Hessen, bei dem es um die Gestaltung von Ufer- und Auenbereichen geht. Die Lahn hat jetzt also bei Weimar mehr Platz. Es gibt kleine Inseln und Steilufer mit Brutmöglichkeiten für Vögel. Angeschwemmtes Totholz bietet Unterschlupf, im flachen Wasser leben junge Fische, Tümpel am Ufer sollen Amphibien anlocken, und auf einer extra angelegten Wiese darf sich der seltene Dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling, eine Schmetterlingsart, wohlfühlen. Ziel ist es, dass die Lahn selbst an ihrem Bett arbeitet, wie Ortrud Simon von der Unteren Naturschutzbehörde der Stadt Marburg erläutert. Alles darf sich hier ständig verändern, im wahrsten Sinn im Fluss sein. Zudem, sagt sie auch mit Blick auf den Hochwasserschutz, soll das Areal die Funktion einer Auenlandschaft wieder erfüllen können. »Eine Aue ist wie ein Schwamm.«
Für Höfner und Simon ist das Renaturierungsprojekt ein seltener Glücksfall. Oft genug scheiterten solche Vorhaben an fehlenden Flächen, Geld und Personal, sagen die Expertinnen. Doch die Stadt Marburg erwarb demnach bereits vor Jahrzehnten hier Grundstücke.
Die Idee, der Lahn in der Gegend mehr Freiheit zu geben, schlummerte auch schon länger in Behördenschubladen. Doch erst mit dem im Jahr 2015 gestarteten EU-Projekt »Living Lahn« habe es auch ausreichend Geld und weitere Ressourcen für die Umsetzung gegeben.
Dass der Fluss an der »Gisselberger Spannweite« mehr Platz bekommen hat, begrüßt der Naturschutzbund (NABU) Hessen. »Das ist im Prinzip das, was wir uns überall wünschen«, sagt NABU-Geschäftsführer Mark Harthun. Denn die Lahn wird ansonsten über weite Strecken nicht nur in einem künstlichen Bett gehalten, sondern durch diverse Wehranlagen gestaut. Der Ökologie tut das nicht gut. dpa