Spiegelbildlich
Weiß ein Spiegel wo oben und unten ist? Wissen Sie es denn immer so genau? Sie meinen, oben ist immer da, wo Ihr Kopf ist? Wenn Sie abends gemütlich auf dem Sofa liegen, behauptet Ihr Mann vielleicht, Ihr Kopf befände sich rechts und nicht oben (»Schatz, wo hast du heute bloß wieder deinen Kopf?«). Wie auch immer Sie beide sich in diesem Fall einigen, im Alltag ist es üblich und nützlich, »unten« in Richtung der Schwerkraft (also zum Erdboden) und »oben« ihr entgegen gerichtet (also zum Himmel) zu bezeichnen.
Mit rechts und links ist es nicht so einfach. Eigentlich könnte man sich auch hier einigen, indem man mit »rechts« immer die Richtung Norden und mit »links« immer Süden meint. Das würden wir vielleicht sogar tun, wenn wir - so wie manche Vogelarten - einen Magnetsinn zur Orientierung am Erdmagnetfeld hätten. Uns fehlt aber ein unmittelbares Gespür für Nord und Süd. Also schleppt jeder sein eigenes Links und Rechts mit sich herum und definiert eine Richtung nur in Bezug auf sich selbst. Wenn zwei Personen sich gegenüberstehen, sind Nord und Süd für beide zwar identisch, links und rechts jedoch zeigen für jeden in verschiedene Richtungen.
Das hat aber auch Vorteile: In europäischer Tradition ist die Schreibrichtung immer von links nach rechts (von Süd nach Nord wäre ziemlich unpraktisch). Beim Lesen richten wir also ein Schriftstück immer gemäß Schreibrichtung aus. Wenn wir unserem Gegenüber das Geschriebene zeigen wollen, müssen wir es richtungsmäßig umdrehen, damit es dann in dessen Orientierung gelesen werden kann.
Manchmal klappt’s auch anders: Wenn man die spiegelsymmetrischen Buchstaben THM von oben nach unten schreibt, sind sie von allen Richtungen, von vorn und von hinten jeweils gleich gut lesbar - ganz abgesehen davon, dass die THM in jeder Hinsicht immer gut dasteht.
Ein Spiegel dreht gar keine Richtung um. Weder oben und unten, noch Nord und Süd. Er dreht nur den individuellen Bezug bzw. den Drehsinn eines Objekts um. Wenn ich mich um 180° drehe, nehme ich mein Links und Rechts in Bezug auf mich selbst mit. Im Spiegelbild, das mich ja nur um 180° gedreht abbildet , ist das nicht der Fall: Ich blicke dann, ohne mich »in echt« gedreht zu haben, in die um 180° Grad gedrehte Richtung. Das geht aber nur, wenn dabei rechts und links vertauscht werden.
Uns im Spiegel zu betrachten, ist uns seit Langem vertraut. Aber anders als ihre Mütter früher haben die jungen Mädchen heute gar keinen Spiegel mehr bei sich, um Frisur und Lidstrich zu kontrollieren. Sie machen das mit der Frontkamera ihres Han-dys. Normalerweise macht ein Handy eine Abbildung wie ein Foto. Ein Foto zeigt aber kein Spiegelbild, sondern lässt die Richtungen unverändert. Um sich dennoch wie im Spiegel zu betrachten, muss das Handy erst auf »gespiegelt« umgeschaltet werden. Ähnliches gilt übrigens auch für Videokonferenzen.
Spiegeln geht manchmal auch ohne Spiegel: Ein Tiefdruckgebiet dreht sich auf der Nordhalbkugel immer entgegen dem Uhrzeigersinn, auf der Südhalbkugel andersherum. Der Äquator ist somit ein Spiegel für Hochs und Tiefs.
Gibt es auch Spiegel, die sowohl links und rechts, als auch oben und unten vertauschen? Betrachten Sie sich mal in einem großen und möglichst gleichmäßig gewölbten Suppenlöffel. Der dreht Sie in alle Richtungen um!
Manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern. Werch ein Illtum.
Ernst Jandl, 1966
Prof. Joachim Breckow ist Experte für Medizinische Physik und Strahlenschutz an der THM Gießen.