Wiesbaden - Die Armut ist in Hessen noch stärker gestiegen als zunächst berechnet. Wie aus dem aktualisierten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervorgeht, lag die Quote im Jahr 2021 bei 18,5 Prozent und nicht bei 18,3 Prozent, wie bislang angenommen. Demnach sind rund 12 600 Menschen mehr betroffen. Und das war vor Beginn des Ukrainekriegs und seiner Folgen.
Am 8. Oktober wählen die Hessinnen und Hessen ein neues Landesparlament. »Armutsbekämpfung muss ein zentrales Thema im laufenden Wahlkampf sein«, forderte am Freitag Annette Wippermann, Referentin für Grundsatzfragen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen. »Die Parteien müssen sich daran messen lassen, ob sie mit überzeugenden Konzepten für gesellschaftliche Teilhabe für alle antreten.« Die Situation sei noch dramatischer als angenommen, wie die neuen Zahlen zeigten.
In der nächsten Legislaturperiode müsse endlich ein Aktionsplan zur Bekämpfung der Armut mit konkreten Schritten auf den Weg gebracht werden. Denn Besserung sei nicht absehbar. Im Gegenteil: »Leider müssen wir davon ausgehen, dass die Zahlen aufgrund der aktuellen Krisen noch steigen werden.«
Die Lage verschlechtert sich schon seit einiger Zeit, wie aus dem Bericht hervorgeht. 2020 lag die Armutsquote demnach noch bei 17,4 Prozent und damit um mehr als einen Prozentpunkt niedriger als im Jahr darauf. Im Länderranking ist Hessen vom siebten auf den elften Platz abgerutscht. Sechs Jahre zuvor stand Hessen bei der Armutsquote noch direkt hinter Baden-Württemberg und Bayern an dritter Stelle. Unter den westdeutschen Flächenländern hat Hessen die zweithöchste Armutsquote mit einem Abstand von lediglich 0,7 Prozentpunkten zu Schlusslicht Nordrhein-Westfalen.
Regionale Unterschiede
Der am Freitag veröffentlichte aktualisierte Bericht macht auch regionale Unterschiede deutlich. In Mittelhessen ist die Armutsquote demnach mit 19,5 Prozent am höchsten, gefolgt von Nordhessen mit 19 Prozent und Osthessen mit 18,5 Prozent. Das Rhein-Main-Gebiet und Südhessen liegen mit 18,1 Prozent gleichauf.
Alarmierend: Fast ein Viertel aller Minderjährigen ist betroffen. Das ist nichts Neues, aber gleichwohl erschreckend. Ende Januar hatte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie veröffentlicht, wonach die Armutsquote unter Minderjährigen bei 24,4 Prozent liegt - nur in drei Bundesländern ist sie noch höher.
Wippermann fordert eine kurzfristige Anpassung der Hilfen. »Die Not von Menschen mit einem geringen Einkommen wird angesichts der Inflation immer drängender«, sagte sie. Die Regelsätze in Bürgergeld und Altersgrundsicherung müssten spürbar angehoben werden, um existenzsichernd zu sein, nach Berechnung des Paritätischen von jetzt 502 auf 725 Euro. »Auch das BAföG muss steigen und die Kindergrundsicherung zügig eingeführt werden.«
Wie aus dem im Dezember veröffentlichten Sozialbericht der Landesregierung hervorgeht, ist das relative Armutsrisiko für Alleinerziehende besonders groß. Es liegt bei 45,2 Prozent. Außerdem stark betroffen: Erwerbslose, Familien mit vielen Kindern, Menschen mit Migrationshintergrund und ohne Ausbildung. In der Gruppe der Älteren ist Armut weiblich. Der Bericht basiert auf Daten aus dem Jahr 2020. Zu dieser Zeit mussten sich 3,2 Prozent der Haushalte in Hessen erheblich einschränken.
Die Linksfraktion unterstrich die Forderungen des Paritätischen nach einem Aktionsplan. Fraktionschefin Elisabeth Kula sagte: »Wenn jedes vierte Kind in einer armutsbetroffenen Familie aufwächst, müssten an sich doch selbst bei der Landesregierung die Alarmglocken schrillen.«
Jutta Rippegather