19. Juli 2019, 21:11 Uhr

Der Mond ist aufgegangen

Am Mittwoch war er wieder rund und schön. Zuverlässig und pünktlich wie immer. Man kann die Uhr nach ihm stellen. Wenn es den Mond nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Ich möchte gar nicht auf ihm spazieren gehen - so wie Neil Armstrong. Ich will nur, dass er da ist. Denn der Mond ist das helle Licht in dunkler Nacht.
19. Juli 2019, 21:11 Uhr
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Von Burkhard Bräuning

Ich habe einen Freund. Er ist ein kluger Mann, versteht eine Menge von Naturwissenschaften. Er kann komplizierte Formeln lesen. Und obwohl sein Kopf so klar ist, so aufgeräumt, so strukturiert, schaut er gerne in den Himmel. Und träumt. Er denkt darüber nach, was andere wohl denken, die in den Himmel schauen. Ob sie über den Urknall grübeln - oder die Größe des Universums? Ob sie nach Sternenbildern suchen - oder dem Mond beim Wandern zusehen? Vielleicht denken sie an Gott - oder das »Abendlied«? Mein Freund will es nicht genau wissen, er will es sich nur vorstellen. Und seinen eigenen Träumen nachhängen. Deshalb würde er auch nie jemand danach fragen.

Klar ist: Ein Blick in den Himmel ist nie langweilig. Irgendwas ist immer - da oben. Die Frage, die mein Freund sich stellt, gefällt mir. Denn auch ich blicke oft nach oben. Wie kann man leben, wenn man nicht nach den Sternen schaut? Charly Brown, der traurige Held der Peanuts, lässt sich gerne hängen. Und schaut dabei nach unten. Damit auch jeder sieht, dass er deprimiert ist. Er blickt auf den Boden, in den Staub - oder auf den grauen Asphalt. Aber er schaut auch nach oben. Würde er es nicht tun, müsste man sich Sorgen machen. Aber weil er auch Sonne, Mond und Sterne im Blick hat, habe ich keine Angst um ihn.

Was ich hier schreibe, hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Es geht um Gedanken, um Gefühle. Und um den Mond. Der Mond ist pure Emotion. Obwohl er ja perfekt »programmiert« ist, präzise kommt und geht, immer im selben Rhythmus. Er nimmt zu, nimmt ab. Ist weg. Nimmt wieder zu ... Der Mond und der oft beschriebene Mann im Mond sind die Zuverlässigkeit in Person.

Dass das Leben auf der Erde (noch) funktioniert, ist ein Wunder. Weil wir ja in vielen Dingen nicht zuverlässig sind. Jedenfalls nicht so verlässlich wie der Mond. Viele Menschen sind chronisch unpünktlich. Wir sind gut darin, Ausreden zu erfinden, weil wir Dinge nicht regeln. Aber andererseits geht die Welt nicht unter, wenn ich meine Werkstatt nicht aufräume, den Rasen eine Woche später mähe. Was ist denn schon dabei, wenn man einfach mal nichts tut? Ich meine, der Mond ist zwar immer pünktlich, aber er hat ja auch nicht viel zu tun. Klar, er muss sich ein bisschen um die Gezeiten kümmern, aber sonst? Er chillt oft und ist ein Vorbild, gerade wenn es um Gelassenheit geht.

Der Mond ist also nach meinen persönlichen Beobachtungen zuverlässig und gelassen. Aber er ist auch unberechenbar. Manchmal wirkt er riesig, vor allem, wenn er sich bei uns im Vogelsberg gemächlich über die Horizontlinie nach oben schiebt. Gewaltig sieht er da aus, aber eben auch ein wenig behäbig. Wenn er weiter am Himmel nach oben wandert, wird er kleiner. Wenn er noch ganz tief steht, dann hält er mich oft zum Narren. Ich muss ihn nur kurz aus den Augen verlieren - und schon ist er nicht mehr da, wo ich ihn vermute. Zwei Kurven - und die Perspektive hat sich verschoben.

Der Mond ist aber auch Motivator. Er mahnt all die zur Gartenarbeit, die an den Mondkalender glauben. Und er beflügelt die Fantasie. Ohne den Mond würde den Poeten etwas Wichtiges fehlen. Dichter und Liedermacher schreiben über Augen und Münder, über Wangen und Hände, über Haare und Schmuck. Aber auch über das Meer und den Strand, über Seen und Flüsse, über Berge und den Himmel. Über Sonne, Sterne - und den Mond. Neil Young ist so ein Poet, ein raubeiniger zwar, aber er kann einfühlsame Texte schreiben. Das Lied »Harvest Moon« ist eine einzige Liebeserklärung. Ein Auszug:

»Komm ein wenig näher.

Höre, was ich zu sagen habe.

Wir könnten wie schlafende Kinder

diese Nacht einfach verträumen.

Doch jetzt wird es spät,

und der Mond steigt schon auf.

Ich möchte feiern

und sein Leuchten in deinen Augen sehen.

Denn ich bin immer noch verliebt in dich.«

Der Mond taucht auch viele große oder bewegende Momente unseres Lebens in ein besonders Licht. Zum Beispiel diesen: Wenn die Band auf der Bühne das letzte Lied spielt, wenn viele kleine Lichter angehen, man nur noch zarte Gitarrenklänge hört, oder ein Klavier, wenn der Frontmann oder die Frontfrau noch mal alles gibt und wenn er oder sie ein Lied, das von Liebe erzählt, ins Mikrofon haucht. Wenn man sich dann umdreht und der Vollmond in seiner ganzen Schönheit tief am Himmel steht, ist das für jeden einzelnen Besucher ein ganz intimer einzigartiger Moment. Der Mond, das Lied und die Band - wenn alles passt, dann ist das pures Glück. Vier unvergessliche Minuten von der kleinen Ewigkeit unseres Lebens.

Ganz anders ist dieser Moment: Wenn man nach der Geburt eines Kindes Frau und Baby im Krankenhaus zurücklassen muss und in der Nacht alleine nach Hause fährt, wenn Tränen der Freude über die Wangen laufen, wenn im Radio »Sternenreise« von Udo Lindenberg läuft, oder »Kleines Mädchen« von Reinhard Mey, dann ist das viel mehr als Glück. Dann beginnt für drei Menschen ein neues Leben. Wenn man dann um eine Kurve fährt und dem Mond in sein rundes Gesicht schaut, muss man stehen bleiben, weil der Schleier vor den Augen undurchdringlich wird.

Vor 50 Jahren betraten erstmals Menschen den Mond. Ein alter Menschheitstraum wurde wahr. Seit diesem Tag ist Neil Armstrong ein Mann für die Ewigkeit, der erste Mensch auf dem Mond. Das wird er immer bleiben. Heute werden viele an diese Nacht im Juli vor 50 Jahren zurückdenken. 1969 - das war, wenn man die technischen Möglichkeiten bedenkt, so etwas wie die Jungsteinzeit der Moderne. Umso mehr muss man die Leistung der Amerikaner loben. Wer damals vor dem Fernseher saß, der wird sich heute gewiss daran erinnern - an das Staunen, die Spannung, die Bewunderung. So eine große Gemeinschaft vor dem Fernseher wird es wohl nie wieder geben. Das Lagerfeuer ist schon lange erloschen. Wer oder was könnte es wieder anzünden? Mir fällt nichts ein. Aber wer weiß...

Armstrong sei ein stiller Held gewesen, einer, der die Öffentlichkeit scheute. Das sagen Menschen, die ihn gut kannten. Seinen Ruhm hat er nicht ausgekostet. »Die Umstände haben mich in diese besondere Rolle gebracht«, hat er gesagt. »Aber eigentlich wollen wir alle doch nicht nur für eine einzelne Großtat anerkannt werden, sondern für die Mühen unserer alltäglichen Arbeit.« Was für eine Größe - und was für eine Bescheidenheit.

Ob Neil Armstrong das »Abendlied« kannte, weiß ich nicht. Ob mein Freund beim Blick nach oben ab und zu mal an »Der Mond ist aufgegangen« denkt, weiß ich auch nicht. Ich frage ihn ja nicht danach. Ich denke oft an diese sieben Strophen. Auch wenn ich wie jetzt hinter meinem Schreibtisch sitze. Was für ein feiner Beobachter muss Matthias Claudius gewesen sein: »Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar: Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbar.« Es ist schön, dass wir noch lange Sommer haben, aber ich freue mich auch auf dieses Bild, das Claudius uns da geschenkt hat, weil es genau die Stimmung des Herbstes wiedergibt: Er ist bunt und düster zugleich.

Die Besatzung von »Apollo 11« hat Geschichte geschrieben. Aber man muss nicht wirklich da hoch, um die Magie des Mondes zu spüren. Eher im Gegenteil. Einer, der oben war, der Astronaut Frank Bormann, hat über den Mond gesagt: »Eine gewaltige, einsame Ausdehnung von nichts.« Seine ganzes Charisma zeigt er offenbar nur aus der Ferne.

Auch wenn wir ihn manchmal nicht sehen: Der Mond ist immer da. Und man könnte ihn immerzu anschauen. Der japanische Dichter Bashô schreibt: »Wolken ziehen auf, von Zeit zu Zeit - sie bringen die Chance, ein wenig auszuruhen von der Betrachtung des Mondes.« Er hat recht. Man muss ja auch noch Zeit für andere schöne Dinge des Lebens haben. Zum Beispiel für die Familie, den Garten, für Musik - und für Bücher über den Mond. (Foto: dpa)



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